Wie die Bilder entstanden
„Ich bin nicht wert, Dich zu malen, aber sprich du ein einziges Wort, und ich bin geheilt!“
Wie die Bilder entstanden
Dieses gemalte Evangelium soll das Evangelium nach ‚saint Lattier‘ werden.
Der ‚,heilige Lattier‘ muss irgendwann gelebt haben. Über der Eingangstür zum Häuschen in Poulx hängt eine Dorftafel, die mir vor vielen Jahren ein befreundeter Maler geschenkt hat.
Darauf steht: SAINT-LATTIER
Ich weiß nicht, was genau der ‚,heilige Lattier‘ zu seinen Lebzeiten getan hat. Aber warum könnte er nicht auch ein Evangelium geschrieben haben?
Jedenfalls, wenn Jesus will, so wird das, was ich malen werde, das Evangelium nach ‚,saint Lattier‘, ein fröhliches, zärtliches Evangelium, ohne Stolen und goldbestickte Messgewänder. Ein Evangelium für ‚,Kleine Leute‘, zu denen ich ja auch gehöre. Und alle übrigen waren das im übrigen ja auch: Fischer und Schreiner – nicht unbedingt arme Leute, aber solche aus dem Volk.
Seit einigen Jahren geht mir schon der Gedanke durch den Kopf, dass wir im Grunde allesamt Heilige sind. Allein schon, dass wir leben und Leben annehmen – macht aus uns Heilige! Sogar die im Schatten, sogar die, deren Leben man um nichts in der Welt eintauschen möchte gegen das eigene. Nehmen wir zum Beispiel Judas. Im Johannesevangelium sagt Jesus zu ihm: „Tu, was Du tun musst!“
Und Judas steht auf, der Dämon tritt in sein Herz – und er wird zum Verräter!
Judas gehorcht also Jesus.Danke, ‚Heiliger Judas‘! Stellt euch doch mal einen Augenblick lang vor, was geschehen wäre, wenn er gemault hätte, wenn er gebummelt hätte. Wenn er sich geweigert hätte, Jesus zu gehorchen! Dann gäbe es keine Passion, kein Ostern, keine Auferstehung. Er wird also wohl doch auch heilig sein, der arme Judas!
Oder sagt mal: Warum ‚das ,Massaker der Unschuldigen‘? Vielleicht brauchte es all diese Unschuld, damit Jesus überhaupt zu uns kommen konnte?
Ich weiß es nicht. Ich weiss es nicht mehr. Mir platzt der Kopf. Ich glaub, ich male lieber meine Bilder.Jesus, du weißt alles: führe Du nun meine Hand und meinen Pinsel!
Es gibt im Museum der Uffizien in Florenz ein Diptychon von Botticelli, ‚Der ,Heilige Barnabas‘. Es ist meisterhaft gemalt. Unter diesem Altarbild befindet sich eine Predella und mitten in der Predella ein kleines Bild: ‚Der Heilige Augustin und das Kind‘. Es ist ein ganz kleines Bild, ungeschickt, zögernd, schlecht gemalt. Die Kunstkritiker und die Museumskonservatoren fragen sich, was das kleine Bild da eigentlich soll. Und was es überhaupt sein mag, eine Schülerarbeit? Eine Amateurmalerei? Da aber Botticelli, der große Meister, dieses kleine, bescheidene, nicht besonders gut gemalte Bild in sein Werk eingefügt hat, hat sich niemand jemals getraut, es zu entfernen.
Jedenfalls befindet sich dieses kleine Bild, so unbeholfen, so zögernd, so schlecht es auch gemalt ist, in den Uffizien, in Florenz, in einem der berühmtesten Museum der Welt!
Ich muss an dieses kleine Bild denken, während ich gerade anfange, das Evangelium zu malen. Ich fühle mich etwa so wie der Maler, der dieses kleine Bild gemalt hat: ungeschickt und zögernd – und nun will ich das Evangelium malen. Diese gewaltige Geschichte, die seit 2024 Jahren in den Herzen der Menschen widerhallt! Und ich sage mir – vielleicht ganz gleich wie das für das kleine Bild ‚,Der Heilige Augustinus und das Kind‘ gilt, dass auch ich dort meinen Platz habe — irgendwo ganz unten im großen Museum des Lebens. Die Kunstkritiker und die Museumskonservatoren werden sich fragen, was ich da überhaupt verloren habe: So viele große Maler, große Dichter, große Musiker, große Schriftsteller und große Mystiker haben doch längst schon Hervorragendes zu den Evangelien geschaffen.
Aber es könnte ja sein, dass es niemand dereinst wagen wird, meine kleinen Bilder von der Wand zu nehmen.
Der Gedanke, die Evangelien zu malen, ist mir in Ruoms gekommen, an einem Sonntag im September 2006. Ich bin vom Petit Bois ins Dorf ‚runtergelaufen, um der alten romanischen Kirche ‚,auf Wiedersehen‘ zu sagen. Pfarrer Roger feierte gerade die Sonntagsmesse. Bei der Kommunion sagte er „Ich bin nicht wert, Dich zu empfangen – aber sprich Du ein einziges Wort und ich bin geheilt!“.
In Gedanken hab ich gesagt: „Ich bin nicht wert, Dich zu malen, aber sprich du ein einziges Wort, und ich bin geheilt!“
Nun ist ein Montag im Oktober 2006. Es ist acht Uhr morgens, über der Wildnis draußen ist schönes Wetter, und die Morgensonne scheint auf die Felsen über dem Gardon.
Nach dem Malen
Jetzt, im September 2008, bin ich mit Annie im Hof der Kapelle Notre Dame des Pommiers, in Ruoms.
Es ist Abend, im romanischen Hof ist es bereits schattig. Der alte romanische Kirchturm von Ruoms ist noch voll in der Sonne. Ein Herr und eine Dame kommen auf mich zu. Ich soll ihnen etwas über meine Malerei sagen. Ich erkläre ihnen, dass ich grade ‚Das Evangelium von Saint Lattier‘ male, fröhliche und zärtliche Evangeliumsbilder.
Der Herr fragt mich, ob ich gläubig sei. Ich sage, ich weiß das nicht. Aber, ob man nun an Gott glaubt oder nicht. Was sicher auch für Gott wichtig sei, ist dies: Dass vor 2010 Jahren zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, Leute gesagt und geschrieben haben: „Liebet Euch untereinander!“ Es gibt in der ganzen Welt keinen wichtigeren Gedanken. Menschen haben ihn vor 2010 Jahren gesagt und aufgeschrieben. Nun kann man nicht mehr dahinter zurück. Klar, es wurden Versuche unternommen, durch die Inquisition, durch die Nazis, und andere. Aber diese Idee ist immer noch da: Denkt an die allgemeine Erklärung der Menschenrechte: ‚Alle Menschen werden frei geboren und haben gleiche Rechte‘
Dieses Jahr, zu Epiphanias, kam ein alter Priester, Gérard Estour, in mein Häuschen (unsere Freundin Suzanne brachte ihn mit). Er wollte meine Arbeiten zu den Evangelien sehen. In seiner alten Aktentasche hatte er einen Dreikönigskuchen und eine Flasche Wein. Wir haben den Kuchen geteilt und den Wein und wie er sein Glas leerte, sagte er: „Gott, im Grunde ist das vielleicht der Mensch, wie er zu werden bestimmt ist“…