Das verirrte Schaf
Das verirrte Schaf
Als ich zwölf Jahre alt war, gehörte ich zu den ‘aufgeweckten Herzen’. Da hatten wir einen Vikar, der konnte unerhört schön erzählen. Der erzählte uns Evangeliumsgeschichten. Unter anderem erzählte er uns die Geschichte vom “verirrten Schaf”. Einige Zeit danach war meine Erstkommunion in der Kirche zum Heiligen Baudilius in Nîmes. Und bei der Katechismusprüfung fragte uns der Pfarrer, ob jemand “das Gleichnis vom verlorenen Schaf” erzählen könnte. Ich hab den Finger gestreckt! Und ich hab das Gleichnis erzählt. Und der Pfarrer hat mich beglückwünscht und mir einen halben Punkt mehr gegeben als allen andern. Und alle meine Kollegen vom kirchlichen Unterricht haben mich deshalb auf dem Kieker gehabt, weil nämlich(ich hab das erst viel später erfahren): die waren alle in der katholischen Schule – und ich, ein Kleiner aus der öffentlichen Volksschule, ausgerechnet ich wurde nun der Beste in der Katechismusprüfung! Da bekamen die aber ganz gewaltig den Kopf gewaschen!
Ich dagegen, in der gewöhnlichen Volksschule an der Rue d’Avignon, ich bekam kein Lob für einen Erfolg, der denen in der öffentlichen Schule völlig wurscht war… Und jetzt bin ich bald 87 Jahre alt – und ich lebe immer noch mit der Geschichte vom verirrten Schaf. Ich will sie euch gern erzählen. Also:
Jesus erzählt: Wie der gute Hirte am Abend seine Schafe zählt, merkt er, dass eines fehlt. Da lässt er seine ganze Herde allein und steigt schnellstens ins Gebirge, um das verirrte Schaf zu suchen. Schliesslich findet ers. Ganz verhüschelet und zitternd vor Furcht, verloren in der Kälte, in Nacht und Schnee, eine leichte Beute für Wolf und Raben!
Er nimmt das verirrte Schaf auf die Arme und bringt es hinunter ins Tal, zur Herde zurück.
Diese Geschichte sagt das genaue Gegenteil der allgemeinen Überzeugung: Dass man halt Eier zerschlagen muss, wenn man Pfannekuchen backen will! Dass man ohne weiteres einen oder auch mal zwei opfern darf, wenn das dem Glück der grossen Menge dient! Nein, eben gerade nicht so! Für Jesus zählt einer ebensoviel wie die ganze Herde! Und wenn eines fehlt, das nun irgendwo allein herumirrt, in Nacht und Eisesklälte, dann hat die ganze Herde ein Problem. Und der gute Hirte lässt die ganze Herde allein – um loszulaufen und das verlorene Schaf wiederzufinden.